Rose-Lynn Fisher

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Was Nahaufnahmen von Tränen verraten

Nur der Mensch weint in emotionalen Situationen. Welche Funktion dieses seltsame Verhalten hat, ist Forschern ein Rätsel. Dabei sind nicht alle Tränen gleich. Das zeigen nun kunstvolle Nahaufnahmen.

Den Wald im Süden zerteilen Teiche, Fjorde, Seen; Wasser, das als Fluss durch die Landschaft mäandert. Weiter oben scheinen Landwirte schnurgerade Furchen in ihre Äcker gezogen zu haben; geflutete Reisfelder, hinter denen sich ein Gebirge auftürmt. Was aussieht wie Luftaufnahmen sonderbarer Landschaften, sind in Wirklichkeit Fotos von Tränen.

Rose-Lynn Fisher hat sie unter dem Lichtmikroskop gemacht, Nahaufnahmen von Momenten höchster Emotionalität: Tränen der Rührung, des Verlustes, Freudentränen. Fisher beschreibt ihre Serie als "flüchtigen Atlas", die Bilder seien "kurzlebige Landschaften". Das Projekt, das vom 11. Oktober an in Berlin gezeigt wird, heißt Topografie der Tränen.

Eher poetisches Streben als wissenschaftliches Interesse habe sie angetrieben, sagt die US-Amerikanerin. Die mehr als 100 Bilder machte Fisher unter einem Standard-Lichtmikroskop von Zeiss aus den 1970er-Jahren, das die Substanz 100- bis 400-fach vergrößert. Die Fotos zeigen: Tränen sind so unterschiedlich wie die Gründe, aus denen sie vergossen werden.

Tränen der Befreiung sehen anders als Zwiebeltränen. Was in der Fotoschau so poetisch erscheint, hat tatsächlich einen wissenschaftlichen Hintergrund: Nicht alle Tränen sind gleich.

 

Was die Strukturen auf den Tränenfotos entstehen lässt

Auch Augenärzte analysieren Tränenflüssigkeit unter dem Lichtmikroskop – der Farnkrauttest. "Auf dem Bild 'Onion Tears' sieht man, warum der Test so heißt", sagt Augenarzt Christian Ohrloff, ehemaliger Direktor der Universitäts-Augenklinik Frankfurt am Main und Sprecher der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft: Die Strukturen der Tränen sehen aus wie Farne.

"Man benutzt diesen Test, um herauszufinden, ob die Schleimproduktion des Auges ausreicht oder ob die Tränenflüssigkeit zu wässrig ist. Wenn die Bilder ein Farnkrautmuster zeigen, ist das ein gutes Zeichen."

Tränenflüssigkeit besteht aus drei Schichten, die das Auge schützen: Direkt auf der Hornhaut liegt die Muzinschicht, ein schleimiger Stoff aus Glykoproteinen, also Eiweiß und Zucker. Er wird von Zellen in der Bindehaut gebildet. Darüber liegt die wässrige Schicht, die den größten Anteil der Tränenflüssigkeit ausmacht. Damit dieses Wasser nicht aus dem Auge abfließt, wird es von einer Fettschicht überdeckt. Sie stabilisiert den Tränenfilm.

Die wässrigen Anteile der Tränen lassen Seenplatten und Flüsse auf den Bildlandschafen von Rose-Lynn Fisher entstehen, die Muzinschicht und Salzkristalle schreiben die Muster der Berge, Wege und Grenzen auf die Fotos ein. "Viele Faktoren beeinflussen die Tränenbilder", sagt Fisher. "Die Masse der Tränenflüssigkeit, die Einstellungen an Mikroskop und Kamera, biologische Varianten und die Art, wie ich das Foto entwickelt und gedruckt habe."

Die Muster entstehen, weil das Licht unter dem Mikroskop anders gebrochen wird, erklärt Augenarzt Ohrloff. Entscheidend sei auch, wie zügig man das Foto macht, sagt er. Auf dem Bild "Tears of release" beispielsweise könne man "Pfützen" erkennen – die Tränen sind wässrig. "Wenn das Wasser verdunstet, zeigen sich die anderen Stoffe deutlicher."

 

Je nach Funktion setzt sich die Flüssigkeit anders zusammen

Am sichtbarsten wird die Eigenheit der Tränenflüssigkeit bei den Zwiebeltränen, die Rose-Lynn Fisher fotografiert hat. Als Schutz gegen Fressfeinde im Erdreich setzen Zwiebeln ein Reizgas aus Schwefelverbindungen frei, wenn sie angeschnitten werden. Das Auge versucht, den Reizstoff wieder hinauszuspülen – und produziert Tränen. "Wegen dieser Schutzfunktion haben Reflextränen mehr Flüssigkeit", erklärt Christian Ohrloff. "Daher überwiegt der Wasseranteil."

Forscher kennen Reflextränen, die von Fremdkörpern oder Umweltreizen hervorgerufen werden, basale Tränen, die die Hornhaut des Auges feucht halten und sie von Schmutz befreien, und emotionale Tränen. Die Tropfen sind mehr als Salzwasser: Tränen reinigen und wehren Bakterien ab, enthalten Proteine, Enzyme, Lipide, Stoffwechselprodukte und Elektrolyte. Derzeit entwickeln Forscher Kontaktlinsen, mit denen Diabetiker ihren Blutzucker durch den Glukosegehalt der Tränenflüssigkeit messen können.

Doch unterscheiden sich Tränen dadurch wirklich in ihrem Aussehen?

Stoffliche Unterschiede zwischen den Tränenarten gibt es durchaus: Emotionale Tränen enthalten bis zu einem Viertel mehr Proteine als Reflextränen, dafür deutlich weniger Flüssigkeit, Tränen der Rührung enthalten Hormone wie Prolaktin oder Adrenocorticotropin. So unterscheidet sich das Bild der Zwiebeltränen von allen anderen.

Rose-Lynn Fisher benennt ihre Fotos noch genauer – danach, was die Tränen auslöste: Veränderung, Trauer, Möglichkeit und Hoffnung. Kann man am Tränenfilm emotionaler Tränen den Anlass des Weinens ablesen? Diese Unterschiede seien eher zufällig, meint Christian Ohrloff: "Dass emotionale Tränen je nach ihrem Auslöser unterschiedlich aussehen, kann man nicht erklären."

 

Warum weinen Menschen eigentlich?

Erklären kann die Forschung auch nicht, warum der Mensch als einziges Lebewesen überhaupt weint, wenn er emotional wird. Die drei häufigsten Auslöser dafür sind dem niederländischen Psychologen Ad Vingerhoets zufolge die Erfahrung eines Verlustes, eine Auseinandersetzung und das Mitansehen von Leid.

Andere Studien untersuchten, wer weint (Menschen in kälteren Ländern öfter als in warmen, in wohlhabenden Ländern mehr als in ärmeren, Frauen überall häufiger als Männer), wo man weint (vor allem zu Hause,überwiegend allein oder in Anwesenheit einer zweiten Person), wann man weint (eher abends, zwischen 18 und 22 Uhr) und warum Menschen aus Freude weinen (weil sie sich an vergangenes Unglück erinnern undHormone der Aufregung die Tränen hervorrufen).

Doch die Funktion emotionaler Tränen bleibt unklar. Theorien gibt es genügend: Weinen schützt die durch Tränen befeuchtete Nasenschleimhaut vor Krankheitserregern, vermuten die einen, Tränen seien ein Hilfeschrei, die anderen. Die "Farewell"-Theorie vermutet, dass die Reflextränen, die ein Lagerfeuer bei Abschiedsszenen hervorrief, im Laufe der Evolution dazu führten, dass Menschen in emotionalen Momenten weinen müssen.

Weil er in der Tränenflüssigkeit erhöhte Mengen Mangan, Kalium und Serotoninfeststellte, folgerte der US-amerikanische Biochemiker William H. Frey II, dass Weinen dazu diene, giftige Stoffe aus dem Körper zu spülen. Die psychische Reinigung, die schon Sigmund Freud Tränen zuschrieb, gehe also mit einer physischen einher.

Beides gilt inzwischen als widerlegt: Die Menge der ausgeschiedenen Giftstoffe ist gering, und empirische Studien hatten gezeigt, dass Menschen sich weder besser fühlen noch entspannter sind, nachdem sie geweint haben. Es sei denn, das Weinen hilft tatsächlich, seinen Auslöser zu beseitigen – wie einen Streit, den man unter Tränen beilegen kann.

 

Wenn Tränen magische Fähigkeiten haben

Doch nichts stützt die Annahme, dass Weinen die Stimmung des Weinenden verbessert, so Ad Vingerhoets. Er vermutet im Weinen Erwachsener ein Überbleibsel aus der langen Kindheit des Menschen: Vom für Säugetiere üblichen akustischen Signal, dem Schreien, sei er zu einem optischen übergegangen, dem Weinen, um seine Eltern auf Bedürfnisse aufmerksam zu machen.

Tränen zielten also auf den Trost und die körperliche Zuwendung anderer: Mehrere Studien belegten, dass weinende Menschen eher Zuneigung und Unterstützung bekommen als nicht weinende. Weinen dient demnach auch bei Erwachsenen vor allem der sozialen Bindung.

Sie fließen bei Trauer, sie fließen bei Glück – und in manchen Erzählungen werden Tränen sogar magische Kräfte zugeschrieben. So kann im Märchen der Brüder Grimm der durch einen Unfall erblindete Königssohn wieder sehen, als die Tränen seiner geliebten Rapunzel seine Augen berühren.

 

Forscher entziffern eine verborgene Sprache

Eine der verborgenen Fähigkeiten der Tränen entdeckten israelische Neurobiologen 2011: Sie klebten männlichen Probanden mit Tränen von Frauen oder mit Salzwasser getränkte Pads unter die Nase.

Dann ließen sie sie die Attraktivität von Frauen auf Bildern beurteilen, maßen Gehirnströme, Testosteronspiegel und Herzschlag der Probanden. Die Männer konnten Salzwasser und Tränen am Geruch nicht unterscheiden, doch nur die Frauentränen senkten ihren Testosteronspiegel sowie ihre sexuelle Bereitschaft.

Tränen enthalten also einen chemischen Botenstoff, der Informationen von Mensch zu Mensch überträgt: Frauentränen verderben Männern die Lust. Damit hätten sie eine "emotional relevante Funktion für Tränen" entdeckt, schlussfolgern die Forscher.

Tränen seien Ausdrucksform unserer ursprünglichsten Sprache, sagt Rose-Lynn Fisher. Mit dem chemischen Botenstoff haben die israelischen Forscher einen ersten Bedeutungsträger dieses Kommunikationsmittels entziffert.

Vielleicht wird man eines Tages mehr vom Wortschatz, der Grammatik und dem Satzbau dieser einzigartigen und eigenartigen menschlichen Sprache verstehen.

Quelle: Die Welt, Julika Meinert, http://www.welt.de/wissenschaft/article132937605/Was-Nahaufnahmen-von-Tr...